31.01.2024

Lesetipp: Die Welt von Gestern

Als mir ein Freund vor einigen Jahren Stefan Zweigs „Joseph Fouché“ schenkte – die Lebensgeschichte des napoleonischen Polizeiministers nach historischem Vorbild – war ich begeistert von Zweigs ironisch-leichtem Stil und seiner gut recherchierten, dichten Erzählweise.
Ich wollte mehr über diesen Autor erfahren und lud mir die digitale Ausgabe seiner Werke auf mein iPhone (dank abgelaufener Urheberrechte für eine Schutzgebühr von nur 2-3 Euro). Nach der Lektüre seiner historischen Erzählungen über die „Sternstunden der Menschheit“, Kurzgeschichten und Novellen (darunter natürlich die „Schachnovelle“), seiner biografischen Werke über so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Maria Stuart und Honoré Balzac und historisch-analytischen Arbeiten wie „Heilung durch den Geist“ über die Entwicklung der modernen Psychologie bin ich schließlich in die „Welt von gestern“ vorgedrungen.
Dieses letzte autobiografische Werk schrieb Zweig im brasilianischen Exil. Der weitsichtige Zweig hatte seine Heimat Österreich bereits 1934 nach London verlassen, nachdem der Austrofaschismus die Demokratie zerstört hatte, viele Jahre vor dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlers Reich.

In „Die Welt von gestern“ erzählt Zweig von seiner Kindheit und Jugend im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Aus einer säkularen jüdischen Familie stammend, wird er schon früh mit Vorurteilen konfrontiert. Wien war zu dieser Zeit eine der Hochburgen des Antisemitismus in Europa, aber auch eines seiner kulturellen Zentren. In seinen Memoiren lässt Zweig das Wien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert lebendig werden: den biederen Schulalltag und die Verwaltung des Habsburgerreiches, die Kaffeehauskultur, das intellektuelle Milieu und das politische Klima der Stadt. Zweig kannte viele große Wiener Zeitgenossen persönlich – zum Beispiel Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, und Theodor Herzl, den Begründer der zionistischen Bewegung.
„Vor 1914 gehörte die Erde allen Menschen. Jeder ging, wohin er wollte, und blieb, solange er wollte. (…) Ich amüsiere mich immer wieder aufs Neue über das Erstaunen der jungen Leute, wenn ich ihnen erzähle, dass ich vor 1914 nach Indien und Amerika gereist bin, ohne einen Pass zu besitzen oder überhaupt einen gesehen zu haben. Man kam rein und kam wieder raus, ohne zu fragen oder gefragt zu werden, man musste keinen einzigen der hundert Papiere ausfüllen, die heute verlangt werden: Es gab keine Genehmigungen, keine Visa, keine Schikanen.“

Literarisch gelang Zweig der große Durchbruch nach dem Ersten Weltkrieg. In den 1920er Jahren wurde er zu einem der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren seiner Zeit. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Zweig in alle europäischen Sprachen und sogar ins Chinesische übersetzt. Das private Glück seiner Jugend blieb für Zweig jedoch unerreichbar. Die nächste europäische Katastrophe des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg schickten Zweig auf eine Odyssee ins Exil.
Nach dem Kriegseintritt Englands fühlte sich Zweig als vermeintlicher „ausländischer Feind“ trotz seiner Gegnerschaft zum Faschismus dort nicht mehr sicher. Zusammen mit seiner Frau verließ er 1940 Europa für immer und siedelte zunächst in die Vereinigten Staaten über, bevor sich das Paar in Brasilien niederließ. Deprimiert von der Kriegssituation in Europa, die einen Sieg Hitlers vorstellbar erscheinen ließ, und der Aussicht, nie mehr dorthin zurückkehren zu können, nahmen sich beide im Februar 1942 in Petrópolis das Leben. Die politischen Tragödien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zu Zweigs persönlicher Tragödie.

Als weltgewandter Europäer hat Zweig mit seinen Memoiren „Die Welt von gestern“ ein beeindruckendes Vermächtnis hinterlassen. Zweigs Werk gehört zum Besten, was die europäische Literatur zu bieten hat. Es ist bitter, dass Zweig nicht mehr erleben konnte, wie 1957, nur 15 Jahre nach seinem Tod, mit den Römischen Verträgen das Fundament der heutigen europäischen Friedensordnung gelegt wurde. Das Europa des Jahres 2022 aber ist wieder bedroht von neuen und alten Gefahren, von Renationalisierung und Isolationismus, von Fremdenfeindlichkeit, antisemitischer Hetze und der brutalen Realität eines neuen europäischen Krieges. Von Zweigs Leben und Werk zu lernen heißt heute, sich von diesen traurigen Entwicklungen nicht entmutigen zu lassen.
Geschrieben von Robert Liniek

Unser Lehrer Robert hat sich die Mühe gemacht, eine fundierte und informative Buchbesprechung für unsere Schüler zu schreiben. In diesem Artikel stellt er euch das Buch „Die Welt von gestern“ vor, ein autobiografisches Werk des bekannten österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig (1881-1942).
Wenn ihr mehr über die deutschsprachige Literatur des frühen 20. Jahrhunderts erfahren wollt, kommt ihr an diesem Autor und seinem Werk nicht vorbei.